Diesseits ausgetretener Pfade: Erfahrungen mit der Mittagskirche
von Prof. Dr. Dr. h. c. Käte Meyer-Drawe
aus: 20 Jahre Mittagskirche / 1999 – 2019
Am 3. Februar 2002 habe ich meine erste Kanzelrede in der Melanchthonkirche im Rahmen der Mittagskirche gehalten. Sie widmete sich unter dem Titel „Leiben und Leben“ der Frage nach unserem konkreten, sinnlichen Zur-Welt-Sein und damit der Sorge um unsere Empfänglichkeit für unsere Welt.
Diese Besorgnis wurzelt in dem Gefühl, dass es uns an Sensibilität gegenüber den Folgen unserer verschwenderischen Eingriffe mangelt. In strengem Sinne haben wir an unserer Welt nicht teil, zeigen keine Anteilnahme, werden durch ihre Beschädigungen nicht berührt. Wir scheinen nicht zu merken, dass wir alles, was wir unserer Welt antun, uns selbst antun. Der Appell an die Rücksichtnahme auf andere und auf unser gemeinsames Leben sollte sich als roter Faden durch alle meine Reden ziehen. Darin verflochten waren unter anderem Überlegungen zur Fantasie, zur Untreue des Gedächtnisses, zu Lachen und Weinen, zum Sehnen und Erträumen, zum Staunen, zum Verstummen, zu Licht und Schatten unserer Weltzuwendungen, die unsere Mitmenschlichkeit färben.
Zu dem Experiment einer Kanzelrede wurde ich durch das Anliegen der Mittagskirche verführt, auf kirchliche Initiativen aufmerksam zu machen und damit die Brücken zu ersetzen, die, wenn sie nicht abgebrochen wurden, doch brüchig sind. Eingefahrene Vorstellungen vom Gemeindeleben sollten irritiert und Vorurteile fraglich werden. Nun sind über 17 Jahre vergangen und weitere 13 Reden zu unterschiedlichen Problemen haben in der Melanchthonkirche ihre Zuhörerinnen und Zuhörer gefunden. Immer wieder ging es um Themen, die uns etwas angehen, uns buchstäblich angehen. Meine Befangenheit hat mit der Zeit abgenommen. Meine Erfahrungen wurden verfeinert. Am Anfang beherrschte mich Nervosität, eine Unsicherheit in Hinblick auf die ungewohnte Aufgabe. Kirchenräume und ihr Inneres sind etwas Besonderes. Sie ragen hervor. Zum ersten Mal war ich mit den Kirchenschiffen konfrontiert, in denen ich sonst Platz zu nehmen gewohnt war. In einen Kirchenraum hineinzusprechen muss gelernt werden.
Das Lesepult ist keine Lehrkanzel.
Gleichzeitig erlebte ich aber von Beginn an auch eine Faszination von den ideenreichen Inszenierungen derjenigen, die an der Vorbereitung beteiligt waren.[1] Der Kirchenraum wird mit vor allem zeitgenössischer Musik und gut ausgewählten literarischen Texten, durch Lesungen und gemeinsames Singen belebt. Dadurch werden in ihm verschiedene Ordnungen und veränderte Raumempfindungen verwirklicht, die dem Sehen, Hören und Erfahren bestimmte Richtungen geben. „Richtung geben“ heißt auch „Sinn geben“. Wir folgen etwa dem Uhrzeigersinn. Worte und Klänge können machtvoll sein. Sie schaffen Erfahrungsräume, sie stimmen uns ein. Sie überkommen uns. Unser Verdienst daran ist es, uns etwas zumuten zu lassen und Anmutiges in Empfang zu nehmen. In Zeiten, in denen sich alles um ein leistungsstarkes Selbst dreht, kann man die eigene Ohnmacht ohne Bedrückung erleben und in der nachfolgenden Stille bedenken. Man findet nicht sich selbst, man verliert sich im anderen.
Dem morgendlichen Gottesdienst, der im geheiligten Kirchenraum gefeiert wird, folgt jeweils am ersten und am dritten Sonntag des Monats die Mittagskirche, in der sich sakrale und profane Elemente mischen, in der sich Geistliches und Weltliches nicht sauber trennen lassen, wobei der geweihte Raum nicht verletzt wird. Es entstehen unterschiedliche Raumordnungen, die sich am selben Ort als Grenzüberschreitung des Alltäglichen entfalten. Dabei werden die sichtbaren Räume zugunsten aller unserer Sinneserfahrungen relativiert. Insbesondere dem Hören der Worte und der Melodien kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Im Orgelspiel, im gemeinsamen Singen und in der Klaviermusik breiten sich Klänge und Anklänge aus, die gefangen nehmen und im Widerhall einen eigenen Raum ausbilden, dem Worte nicht gewachsen sind. Mit Olivier Messiaen kommt Vogelgezwitscher in den geweihten Raum, mit Erik Satis Gymnopédies die Sinnlichkeit des Tanzes. Mit Juan Allende-Blin erleben wir den Kirchenraum als eine Muschel, die uns zugleich schützend umfängt und die Weite des Raumes erahnen lässt. Diese Klangkonstellationen irritieren Hörgewohnheiten, motivieren Einstellungswechsel und führen zu einer Art Selbstüberholung.
Die Mittagskirche ist ein sozialer Raum eigener Art. Michel Foucault spräche hier von einer Heterotopie. Neben Utopien gibt es nach ihm Heterotopien, und zwar in „unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.“[2] Diese Orte weichen von der Norm ab. Im Falle der Mittagskirche vervielfältigen sie die Öffentlichkeit, dienen aber auch der Geborgenheit im Kirchenraum. Vor allen Dingen wird ein eingeschlagener Weg verlassen zugunsten eines Ortes, an dem kein Alltag herrscht, wenngleich Alltägliches wie gemeinsames Essen, Trinken und Sprechen Elemente des Gesamtgeschehens sind. Sie werden jedoch durch die Kirchenatmosphäre getönt. Heterotopien sind reale Orte, an denen das in Utopien Erhoffte in Erscheinung treten kann. Das prägt auch die Kanzelreden, die von ganz unterschiedlichen Beteiligten gehalten werden, die keine theologischen Experten und Expertinnen sein müssen. So durfte ich als Erziehungswissenschaftlerin mitwirken.
Glockengeläut zeigt den Beginn der Mittagskirche um 12 Uhr an. Das Überschreiten der Schwelle vom Bürgersteig über eine Treppe in den Kirchenraum hat Einfluss auf unsere Haltung. Ruhe weicht der Hektik. Blicke richten sich in die Ferne und werden zu den bunten Kirchenfenstern in der Apsis hingezogen. Die vorherrschenden Farben dieser Fenster werden in abstrakten Gemälden hinter dem Altar auf geringerer Höhe wieder aufgenommen und damit der Augenhöhe der Besucherinnen und Besucher nahegerückt. Kanzel und Altar ziehen die Blicke wieder nach oben. Ein zweiter Altar, den Hermann J. Kassel aus rostendem Stahl als stilisiertes Omega geschaffen hat, nähert sich der Blickhöhe der Besucherinnen und Besucher. Das Omega spielt vielleicht auf die Offenbarung des Johannes an, in der Alpha und Omega für die Allmacht Gottes im Hinblick auf den Anfang und das Ende aller Dinge steht (1; 8). Die Kanzel, auf der im Gottesdienst mit Blickrichtung nach unten auf die Gemeinde gepredigt wird, findet ihr Echo in dem Lesepult, das ebenfalls Hermann J. Kassel gestaltet hat. Sein Platz entspricht der Anordnung der Fenster und Gemälde sowie der beiden Altäre. Es steht ebenerdig. Die schräge Holzplatte, auf der Manuskriptseiten platziert werden können, ruht auf einem Strauß von Stahlbetonstäben, die sich zur Rednerin und zum Redner hin verjüngen. Die eingewalzten Rippen sorgen im konkreten Betonbau für sicheren Halt. Rost schützt den Betonstabstahl. Während der Omega-Altar an die göttliche Macht erinnert, kann man die Stäbe mit der rostigen Patina als Inbild der Industrie des Ruhrgebiets betrachten. Beide sind durch ihr Material verbunden. Wieder greifen unterschiedliche Raumordnungen und Erfahrungshorizonte, Geistliches und Weltliches ineinander wie schließlich auch im Widerspiel von der Orgel auf der Empore und dem Flügel unterhalb der Kanzel. In der Mittagskirche wird die Hierarchie von oben und unten durchkreuzt. Das Wort Kanzelrede ist deshalb irreführend, wenn unter Kanzel der erhöhte Ort verstanden wird, von dem aus Geistliche sprechen. Aber Kanzel ist auch ein veraltetes Wort für Pult. Die Erhöhung bleibt – selbst in der Pilotenkanzel. Die Kanzel ist deshalb zunächst der Ort einer Rede ohne Gegenrede. Das ändert sich in den beiden letzten Raumordnungen der Mittagskirche.
Die Mittagskirche wird durch ein gemeinsames Essen und Trinken vom Altarraum rechts unter der Empore fortgesetzt. Hier wird ein anderer Raum geschaffen, und es werden auch unsere anderen Sinnesempfindungen angesprochen: der Geruch durch Kaffee und Blumen, der Geschmack durch Essen und Trinken, das Tasten dadurch, dass man sich die Hand gibt oder sich umarmt. Die strenge Ordnung der Sitzreihen wird suspendiert, Blicke und Worte werden gewechselt. Eine lockere Gesprächsordnung entfaltet sich um den reich gedeckten Tisch herum. Das Sitzen ist weitgehend dem Stehen gewichen. Orte können leicht gewechselt werden. Ein gemeinsames Mahl hat im Kirchenraum eine wichtige Bedeutung. Von ihr wird hier in der Verwirklichung abgewichen, ohne ihren symbolischen Fingerzeig zu bestreiten.
Danach wird wieder ein anderer Ort aufgesucht: Unter der vom Altarraum aus linken Empore werden Stühle in einem Oval aufgestellt, auf denen Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilnehmer Platz nehmen. Hier findet sich eine Stätte des Miteinanderredens, des Austauschs von Erfahrungen. Hier ereignet sich das, was Maurice Merleau-Ponty, ein französischer Philosoph, der entscheidende Souffleur bei allen meinen Kanzelreden, notiert: „In der Erfahrung des Dialogs konstituiert sich zwischen mir und dem Anderen ein gemeinsamer Boden, mein Denken und seines bilden ein einziges Geflecht, meine Worte wie die meines Gesprächspartners sind hervorgerufen je durch den Stand der Diskussion und zeichnen sich in ein gemeinsames Tun ein, dessen Schöpfer keiner von uns beiden ist. Das ergibt ein Sein zu zweien, […], in vollkommener Gegenseitigkeit sind wir für einander Mitwirkende, unser beider Perspektiven gleiten ineinander über, wir koexistieren durch ein und dieselbe Welt hindurch. Im gegenwärtigen Dialog werde ich von mir selbst befreit, die Gedanken des Anderen sind durchaus die seinigen, die nicht ich etwa hervorbringe, wiewohl ich sie schon in statu nascendi erfasse, ja ihnen vorweg bin; und Einwände meines Gesprächspartners entreißen mir sogar Gedanken, von denen ich nicht wußte, daß ich sie hatte, so daß also der Andere ebensosehr mir zu denken gibt, wie ich ihm Gedanken zuschreibe.“[3]
[1] In meinen Ausführungen vermeide ich es aus zwei Gründen, Namen zu nennen: Zum einen kenne ich viele Namen der insbesondere ehrenamtlich Mitwirkenden nicht. Zum anderen ist die Gefahr groß, Namen zu Unrecht zu übergehen. Eine Ausnahme möchte ich mit zwei Namen machen. Ausdrücklich erwähnen möchte ich Ludwig Kaiser, den Kantor, Konzertorganisten und -komponisten, mit dem ich viele Gespräche führen durfte und dessen musikalische Begleitung der Mittagskirche in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden kann, und Dr. Ellen Strathmann-von Soosten, die seit 2006 Pfarrerin der Melanchthonkirche ist, die also die längste Zeit meine Kanzelreden in sachlicher Nähe und mit großer Einfühlsamkeit begleitet hat.
[2] Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften. Band IV, 1980-1988. Hg. Von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Übers. von Michael Bischoff u. a. Frankfurt am Main 2005, 931-943, hier: 935.
[3] Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Übersetzt und durch eine Vorrede eingeführt von Rudolf Boehm. Berlin 1966 [Paris 1945], 406.
Zurück aus dem Exil –
Neue Musik hat in der Mittagskirche eine Heimat gefunden
von Ludwig Kaiser
aus: 20 Jahre Mittagskirche / 1999 – 2019
Wer die Mittagskirche in der Melanchthonkirche an der Königsallee besucht, wird in außergewöhnliche Klangwelten hineingenommen. Zeitgenössische Musik des 20. und 21. Jahrhunderts von Erik Satie, Darius Milhaud, Olivier Messiaen, Arthur Honegger, Arnold Schönberg, Ernst Krenek, John Cage,
Steve Nelson Raney, Juan Allende-Blin u.a. ist in der Mittagskirche mit großer Selbstverständlichkeit angekommen, hat eine künstlerisch-spirituelle Heimat gefunden und entfaltet seit 20 Jahren eine ungeheure Dichte künstlerischen Ausdrucks. Zudem verbindet zeitgenössische Musik sich als Partnerin im Dialog mit Kanzelreden oder Literatur auf unerhörte, exemplarische Weise.
Das Neue Musik im künstlerischen Gestaltungsraum der Mittagskirche eine solch zentrale Rolle einnehmen konnte, entbehrt selber jeder Selbstverständlichkeit. Denn Verbindungen zur Avantgarde scheute die Kirche im 20. Jahrhundert wie der Teufel das Weihwasser.
Doch zurück: Die Situation im Europa nach der Jahrhundertwende wurde bestimmt durch die Suche nach neuen künstlerischen Ordnungen. Denn man stand vor der Auflösung einer Tonalität die rund fünfhundert Jahre gegolten hatte, ähnlich der Auflösung des perspektivischen Bildraums in der Malerei.
In der Musik führte das zunächst zu schwebenden Tonalitätsverhältnissen. Repräsentative Werke dieser entscheidenden Phase sind zu finden in Österreich bei Gustav Mahler oder Arnold Schönberg, bei Alexander Skrijabin in Russland oder – schon im Modus rebellischer Ablehnung – bei Erik Satie in Frankreich.
Diese Aufbrüche der Künste wurden in Deutschland vor 1933 von ultrakonservativen nationalistischen Kreisen als kulturbolschewistische, artfremde Asphaltkunst bekämpft. Nach der Machergreifung durch die Nazis fand eine aggressive Zerstreuung und Vernichtung der Protagonisten Neuer Musik unter dem Attribut des ‚Entarteten‘ statt. Die Emigration fast aller Pioniere der Neuen Musik war die Folge – man denke beispielsweise nur an Arnold Schönberg, Ernst Krenek, Fritz Busch, Paul Dessau, Friedrich Hollaender Kurt Weill oder Hanns Eisler.
Die Kirchenmusik, die während des NS-Zeit ihre ‚Bewährungsprobe‘ gegenüber dem NS-Regime nicht bestanden hatte, ging nach 1945 unbekümmert einen Weg, den sie da fortsetzte, wo er in den dreißiger Jahren begonnen hatte und verwaltete ein Repertoire von alter bis zu gemäßigt moderner Musik, die allen ihren Ansprüchen an Modernität genügte.
Die Öffnung der Kirche für die Neue Musik vollzog sich in der Folge nicht ohne schwerwiegende Hindernisse. Als mein Lehrer Gerd Zacher in den sechziger Jahren erstmals Orgelwerke von Mauricio Kagel, György Ligeti und Juan Allende-Blin spielte erhob sich lautstarker Protest wegen der neuen ungewohnten Klänge, die die so lieb gewonnene Würde des Gotteshauses und die dem Kult innewohnende Erhabenheit in Frage stellten.
Trotz aller Widerstände ist Neue Musik seitdem an einigen Orten in der Kirche angekommen und hat mit meiner Amtseinführung im Juli 1996 auch in die Melanchthonkirche an der Königsallee eine Heimat gefunden.
Seit Oktober 1999 schafft Neue Musik auch in der Feier der Mittagskirche im stimmigen Dialog mit Kanzelreden und Literatur einen Resonanzraum, dem sich die Besucher*innen selbstvergessen anvertrauen können.
Wer aus diesem Resonanzraum berührt zurückkehrt, weiß sich aus einem allzu vertraut gewordenen Umfeld herausgerufen. Neugierde auf zunächst fremd Anmutendes wächst und die Suchbewegungen dieser Neugierde zwischen Selbst- und Fremderfahrung erschließen Schritt für Schritt neue Erfahrungsfelder, die Spielräume einer anderen Gegenwart.
Diese Spielräume hat Neue Musik zu allen Zeiten erschlossen und zugänglich gemacht und es gilt die Vision, dass der, der sich diesen Spielräumen anvertraut, dem Fremden und der Fremde gegenüber nicht feindlich gesinnt sein kann.
Gegen eine heute in weiten Teilen populär gewordenen kirchliche Kulturlandschaft hängt es gerade auch an solchen Erfahrungen einer anderen, dem Fremden gegenüber freundlich-respektvollen Gegenwart, das Neue Musik in der Kirche immer wieder verborgene, des Geistes volle Resonanzräume öffnet, deren wir auch in Zukunft existentiell bedürfen.